Aufgrund der Corona Krise sind wir mehr oder weniger gezwungen Distanz zu halten. Man kann dieses voneinander Fernbleiben sehen wie man möchte. Ich glaube jedoch, dass eine gesunde Distanz – vorausgesetzt sie dauert nicht allzu lange – auch Raum für persönliche Entfaltung bringen kann: Mehr Luft im Außen macht Weite und Ausdehnung möglich und schafft Freiraum, Spielraum und Leerraum. Diese Qualitäten kann man für vieles, jedoch auch für eine Innenschau nutzen. So viel mit sich selbst alleine zu sein, ist möglicherweise für viele von uns ungewohnt. Manche glauben vielleicht, so etwas wie Innenschau sei gar nicht nötig. Andere denken sich vielleicht: „Nur keine schlafenden Hunde wecken!“ und lassen es lieber gleich sein, gründlich in sich zu blicken.
Sich von der Gemeinschaft zu distanzieren schafft Raum für sich selbst um nachdenken und mit seinen eigenen Möglichkeiten experimentieren zu können. So lange das Leben zu vollgepackt ist, bleibt wenig offen. Lückenlos durchgetaktet sein über den Tag oder längere Zeit, schließt persönliche Freiräume oder Spielräume aus. Im dicht gedrängten Alltag vollgestopft mit Aufgaben, Terminen und Verpflichtungen und Freizeitaktivitäten bleibt wenig Platz. Raum entsteht erst, wenn es Distanz gibt. Es wird plötzlich luftiger. Etwas wird zurückgedrängt, dafür kann sich anderes ausbreiten und entfalten. Dieser Leerraum der der durch die Maßnahmen zur Pandemie plötzlich entstanden ist, hat zwar mehrere Gesichter, birgt aber auch viel Potenzial in sich. Unglaubliche Ideen können sprießen. Eine vielleicht bisher unbekannte kreative Ader hat endlich eine Berechtigung, aus ihrer Versenkung aufzutauchen. Gewohntes wird aussortiert, über Bord geworfen und durch Neues, Brauchbares, Besseres ersetzt.
Für Reflexion und Weiterentwicklung brauchen wir Stille und Platz. Im Gedränge, im Gehetze oder Gewühle kann man schwer neue Erkenntnisse gewinnen und dort hat man auch nicht die Ruhe, in oder um sich zu blicken. Dafür benötigen wir quasi vorübergehend ein „Nichts“. Dort können wir den vorwiegend leisen Impulsen unserer Innenwelt lauschend entgegentreten. Diese Zeit – so furchtbar sie auch ist – stellt gleichzeitig eine hohe Qualität bereit, insbesondere für jene, die nicht gerade um ihr physisches, emotionales, psychisches, familiäres oder wirtschaftliches Überleben kämpfen müssen.
All den anderen wurde dieser Freiraum, Leerraum bzw. Spielraum vorübergehend geschenkt. Die Stille und Abgesondertheit von anderen, die mit diesem Geschenk einhergehen ist aber teilweise noch ungewohnt. Wenn es im Außen still wird kann man sich die Zeit nehmen, um neugierig zu lauschen. Man kann über sich und andere nachdenken. Endlich sagen oder schreiben, was man schon längst einmal hätte sagen oder schreiben wollte. Etwas von A-Z durchdenken, wofür man sich vorher nie richtig Zeit genommen hatte. Sich eine ausführliche Rückschau über die wichtigen Dinge im Leben gönnen, die sonst aus Zeitmangel, Stress oder Müdigkeit immer wieder aufgeschoben wurde. Die Gedanken endlich einmal abschweifen, baumeln, reisen oder fliegen lassen ohne Termin-, Zeit- oder Aufgabendruck.
Vielleicht geht es ja auch darum, diesem quasi erzwungenen Freiraum seinen bitteren Beigeschmack zu nehmen und ihn positiv für sich zu nutzen. Letztendlich ist es doch egal was wir in die Hände bekommen oder in welche Situationen wir geraten. Am Ende liegt es immer an uns selbst, wie wir damit umgehen. Jeder Mensch verarbeitet eine und dieselbe Situation ganz unterschiedlich. In diesem Sinne können auch die Distanzierungsmaßnahmen ganz unterschiedlich aufgenommen werden. Sie können aber auch nach der ersten Schockreaktion ein Anstoß für Entwicklung sein. Das für viele Menschen damit verbundene auf sich selbst zurückgeworfen sein kann im positiven Sinn genutzt werden, um voranzukommen.
Es ist eine Zeit, in der eventuell bereits zu lange beiseitegeschobene Träume wieder ans Tageslicht kommen könnten. Visionen, die einmal viel Gewicht hatten, könnten wieder aus ihrer Versenkung befreit werden. Neue und sogar gewagte Ideen könnten erneut sprießen und weiterwachsen. Bisher zurückgehaltene Persönlichkeitsanteile könnten ihre Schleier endlich fallen lassen und Früchte tragen. Hirngespinste könnten weiter reifen und in konkrete Projekte münden. „Ungelegte Eier“ könnten endlich ausgebrütet werden und frisches Leben bringen.
Der Appell für jene die im Moment noch viel Zeit zur Verfügung haben lautet also: Setzen wir uns doch mit der gebotenen Gelassenheit hin, um unsere Innenwelt besser kennen zu lernen. Ein „Date“ im Außen ist im Moment leider noch nicht möglich. Verabreden wir uns doch stattdessen ganz einfach mit uns selbst. Machen wir doch zur Abwechslung einmal ein „Date“ mit unserem ureigensten Kern. Das ist die Substanz unseres individuellen, einzigartigen Wesens. Wir treffen zusammen mit unserem unverwechselbaren Original – unserem wahren Selbst. Keine Angst, das wird jetzt keine esoterische Nummer – ganz im Gegenteil. Diese Ausnahmesituation ist eine unglaublich günstige Gelegenheit, wieder einmal in uns tief drinnen „klar Schiff“ zu machen. Den Kühlschrank oder das Auto putzen wir ja auch von Zeit zu Zeit, also warum nicht auch einmal intern gründlich durchfegen. Vielleicht geraten wir ja dabei in Bereiche, die kleine Schätze für uns bereithalten.
Nachdem wir zur Außenwelt wohl noch für einige Zeit auf gebührenden Abstand gehen müssen, könnten wir doch in der Zwischenzeit auf Tuchfühlung mit uns selbst gehen. Dabei können wir gleich einmal kräftig im eigenen Fundus graben. Vielleicht hat sich ja über die Jahre oder Jahrzehnte schon einiges angesammelt, das bislang zu wenig Gehör oder Aufmerksamkeit bekommen hat. In vielen von uns schlummern verborgene Talente und ein unglaubliches Ausmaß an Kreativität. Unzählige wirklich lustige, herzerwärmende, abgefahrene, schräge oder außergewöhnliche Quarantäne-Videos lassen uns an dieser Tatsache teilhaben. Im Alltagsstress konnten sich bisher verborgen gebliebenen Potenziale oft nicht zu Wort melden, weil wir zu beschäftigt waren mit der Abwicklung unserer beruflichen oder privaten Verpflichtungen. Was aber, wenn wir diesen neu gewonnenen Zugang zu Kreativität, Lebenslust und Lebensfreude auch in den Alltag nach Corona mitnehmen könnten? Um wieviel leichter, schneller und einfacher würde sich so manches knifflige Problem aus der Welt schaffen lassen?
Ausnahmesituationen gehen oft auch Hand in Hand mit Bedrohung und Ungewissheit. Deshalb versucht man entweder sich mit allen Mitteln abzulenken oder man verstärkt sein Bemühen, um das Beste aus der Situation zu machen. Menschen reagieren sehr unterschiedlich auf bestimmte Umstände. In einer so komplexen Situation wie dieser, gibt es auch deshalb sehr viele unterschiedliche Sichtweisen. Alle sind auch nicht gleichermaßen betroffen. Eines ist aber für alle unumgänglich: Wir müssen überlegen wie es nach der Pandemie weitergehen kann. Die Zeit schreit nach Klärung:
Wie können wir als Menschen und soziale Wesen in einer Gesellschaft bzw. Staatengemeinschaft mit unterschiedlichen Bedürfnissen menschenwürdig zusammenleben? Waren wir vor Corona vielleicht schon zu sehr vom Wesentlichen abgetrieben? Haben wir vielleicht schon zu verbissen festgehalten an bereits abgelaufenen Dingen? Waren wir vielleicht schon zu kurzsichtig, zu sehr eingefahren, zugemüllt, abgelenkt, überheblich oder einspurig unterwegs? Haben wir vielleicht vieles zu selbstverständlich genommen und anderes zu wenig beachtet oder geschätzt? Sind wir uns unserer Verwundbarkeit und Endlichkeit ausreichend bewusst gewesen? Hatten wir die guten Zeiten automatisch als Maßstab für die Zukunft angenommen?
Krisen bieten immer auch Chancen für Veränderung. Es wäre so vieles mehr möglich, wenn wir den Kurs des Füreinander und Miteinander auch noch nach Corona weitersegeln würden. Erst der Zusammenhalt und das Miteinander machen eine Gesellschaft reich – und auf Dauer sehr viel reicher. Es gibt so viele Potenziale, die immer noch im Verborgenen schlummern. Wir könnten sie gemeinsam wecken und uns alle an ihnen erfreuen. Wenn wir es als Menschheit schaffen würden, endlich einmal das Beste aus uns herauszuholen – und zwar langfristig– dann bräuchten wir uns so schnell keine Sorgen mehr über die Zukunft zu machen.
Vielleicht ist es utopisch oder naiv daran zu glauben, dass Menschen auch in der Lage sein könnten, sich aus Einsicht und Bewusstsein zu besinnen und daraus resultierend so ein Miteinander irgendwann einmal leben zu können. Vielleicht ist das Ganze hier aber auch nur ein genaueres Hinsehen und Verstehen der ureigensten Bedeutung menschlichen Daseins. Das hat mich zu folgenden Schlüssen geführt:
Wir brauchen mehr Substanz und weniger Oberflächlichkeit.
Wir brauchen mehr Schönheit im Innen als im Außen.
Wir brauchen mehr Sinn als Ablenkung.
Wir brauchen mehr Draufsicht als Interpretation.
Wir brauchen mehr Wahrheit als Schlagzeilen.
Wir brauchen mehr Mutige als Perfekte.
Wir brauchen mehr Lebensfreude als „Hypes“.
Wir brauchen mehr FarbenbekennerInnen als „Windräder“.
Wir brauchen mehr Wind in den Segeln als Flauten.
Wir brauchen mehr UmsetzerInnen als PredigerInnen.
Wir brauchen mehr Lichtblicke als Katastrophenmeldungen.
Wir brauchen mehr Menschenwürdigkeit als Ausgrenzung.
Wir brauchen mehr Gerechtigkeit als Ungleichheit.
Wir brauchen mehr Hinsehen als Wegsehen.
Wir brauchen mehr Bewusstsein als Träumerei.
Wir brauchen mehr QuerdenkerInnen als Fahnentreue.
Wir brauchen mehr Selbstbewusste als „Gewohnheitstiere“.
Wir brauchen mehr Bewegungsfreiheit als Halsstarrigkeit.
Wir brauchen mehr Leichtigkeit.
Wir brauchen mehr Lockerheit.
Wir brauchen mehr Langsamkeit.
Die Menschheit kann sich aufmachen und mutig voranschreiten. Wer sich zu viel mit der Frage nach dem „Wie genau“ beschäftigt, könnte sich auch in der Analyse, in der Beschreibung, in der Vorstellung, in der Diskussion oder Argumentation darüber verlieren. Das kostet viel Zeit und raubt wertvolle Energie, die dann bei der Umsetzung fehlt. Wer bereit ist das Beste von sich aus zu geben, braucht keinerlei Erklärungen diesbezüglich mehr abgeben, denn die Taten werden eine klare Sprache sprechen. Es gibt nur ein Problem. Wenn es nur einen möglichen Weg gibt, den man beschreiten sollte, dann können auch Zweifel aufkommen, ob es wohl der richtige wäre und ob es nicht doch noch einen besseren, kürzeren, schnelleren, brauchbareren geben könnte.
Das Leben hält für uns immer mehrere Möglichkeiten bereit. Es gibt Abzweigungen, Kreuzungen, Irrwege, Umwege, Ausweichen usw. Es ist nicht immer leicht sich zu entscheiden, seiner Entscheidung konsequent zu folgen und sich treu zu bleiben. Es gibt unterwegs manchmal auch zu viele Versuchungen und Ablenkungen die ein Vorhaben scheitern lassen, weil man sich verliert. Insbesondere wenn der Weg eng und steinig wird, neigen wir dazu zu jammern und ungeduldig zu werden. Oft fragt man sich dann: „Wo bleibt die Sicherheit?“ Die kann es, wenn überhaupt, nur im Innen geben. Wenn man einen Zugang zu einer inneren Gewissheit hat und über ausreichend Disziplin und Konsequenz verfügt, dann trägen einen diese Qualitäten oft viel weiter und länger als erlerntes, überliefertes Wissen oder ein Ratschlag von anderen. Wenn sich dann noch ein tieferer Sinn dazugesellt, kann dieses Mehrgespann zu einer enormen Stärke führen, die dabei hilft, selbst großen Hürden halbwegs unbeschadet zu überwinden.
Leicht ist es nicht in dieser Zeit und leicht war es nie – zumindest für alle Durchschnittsmenschen und Normalsterblichen. Es gibt viel zu tun, weil viel liegengeblieben ist die letzten Jahrzehnte. Jeder und jede von uns ist gefordert sein/ihr Bestes zu geben. Wenn wir diesen Weg einschlagen, dann kann es nicht nur für die Gesellschaft gut werden, sondern auch für jede und jeden Einzelnen von uns.
Ich habe eine Reise gemacht in mein Inneres und es hat mir diese Gedanken geschickt. Mach auch du eine Reise in dein Innerstes und lausche, was es dir zu sagen hat. Viel Spaß beim „Dating“ mit dir selbst.
Lea Anders, 8. April 2020